Industrie 4.X

Die Wunderwelt der digitalen Dinge

Von Christian Raum · 2018

Die Industrie wird neu gedacht: Algorithmen und Vernetzung wandeln lineare Produktionsketten in hochkomplexe und verschachtelte Produktionsnetzwerke. Informationstechnologie steuert Roboter und Maschinen und die Logistik ist ein Teil des Produktionsprozesses. Nach der kurzen Ära des Smartphones wird das Fahrzeug zum entscheidenden Mobile-Device. Denn es ist die beispielhafte Maschine für das neue Industrie-Zeitalter.

LKW auf einem Parkplatz. Thema: Industrie 4.X

Die Trucks der Zukunft sind fahrende Roboter. Sie werden aus den Cloudsystemen ihrer Hersteller gesteuert und gewartet. Das Jahr 2018 markiert einen Umbruch – denn in diesem Sommer haben die Autohersteller erstmals Prototypen von führerlosen LKWs vorgestellt. Wenig überraschend ist, dass diese Fahrzeuge in Zukunft ohne Lenkrad, Schlafplatz, Fahrersitz und Rückspiegel auskommen. Trotzdem ist es verstörend vor einem Lastwagen zu stehen, dessen wichtigstes Element einfach nicht mehr da ist – die Fahrerkabine.

Der Schlüssel zum Verständnis sind künstliche Intelligenz, Robotik, vorausschauende Wartung und ununterbrochene Datenanalyse. Im Moment arbeiten die Ingenieure mit Hochdruck daran, den „Störfaktor“ Mensch aus den Fahrzeugen zu verbannen. Das angestrebte Ergebnis – die Fahrzeuge sollen in Zukunft ohne Pause unterwegs sein. Denn Fahren ohne Fahrer bedeutet, es gibt keine Ruhezeiten mehr. Kein Stopp für Mittagspausen oder zum Kaffeetrinken. Die Logistiker sparen Kosten für bezahlte Überstunden, für Krankheit oder Sozialversicherung. 

Mit dem Einbau eines Elektroantriebs hoffen Hersteller und Transportunternehmen Nachtfahrverbote und Umweltzonen in den Städten zu umgehen. In Zukunft – so die Vision – surren Zugmaschine und Auflieger beinahe geräuschlos, nahezu emissionsfrei und möglichst ohne Pause von der Fabrik zum Hafen und vom Hafen weiter zum Logistikzentrum und zurück zur Fabrik.

Digitaler Umbau fordert hohe Investitionen

Die fahrerlosen LKWs sind die Maschinen, die die Logistik- und Produktionsketten miteinander verknüpfen. Sie könnten das verlängerte Fließband der Produktionsanlagen werden. Denn eine ihrer Stärken ist, dass sie ständig in Bewegung sein können. Glaubt man den Plänen der Industrie, könnten sie Komponenten und Ressourcen zwischen Fabriken an verschiedenen Standorten und nichtlineare Produktionsketten automatisiert verbinden. 

Offensichtlich ist der führerlose LKW der Missing Link von der Digitalisierung der Industrie zur hochkomplexen Automatisierung. Nachdem in den vergangenen Jahren der Datentransport zwischen Produktionen, Produktionsressourcen und Produkten realisiert wurde, kann nun die Industrie mit der automatisierten Logistik für Produkte und Komponenten ein neues Level erreichen. Und sie könnte damit auch die hohe Wertschöpfung liefern, die eines der zentralen Versprechen von Digitalisierung ist.

Dafür sind zunächst hohe Investitionen nötig. Tatsächlich ist die Anschaffung neuer Produktionsanlagen teuer. IT-Beratung und -Implementierung ist in vielen Regionen auf Monate ausverkauft. Die Arbeitgeber klagen über einen leergefegten Arbeitsmarkt. Viele Verantwortliche fürchten unabsehbare Kosten für die Sicherheit ihrer Anlagen. Denn die sei in keiner Weise zufriedenstellend gelöst und gilt als großer Unsicherheitsfaktor. Und das Topmanagement vieler Unternehmen hält wichtige rechtliche Fragen rund um Datenbesitz und Datennutzung für nicht geklärt. 

Paradigma: Pausenlose Produktion 

Ohne Frage kann der Return der Investitionen für den Wandel noch lange nicht in Euro und Cent vorausberechnet werden. Wie sich für die Verantwortlichen Kosten und Nutzen die Waage halten, zeigt das Beispiel der fahrerlosen LKWs: In der momentanen Kalkulation der Hersteller sind die Preise der neuen Fahrzeuge kaum niedriger als die der herkömmlichen Varianten. Das Fehlen des Fahrerhauses spart zwar hohe Beträge ein. Die werden aber durch die Kosten für neue Bauteile wie Sensorik, Kameras, Radar, Steuerung und Vernetzung fast ausgeglichen. 

Wirkliche Einsparungen bringt erst der angestrebte pausenlose Betrieb der Lastwagen. Analog dazu scheint die Situation in der gesamten Wirtschaft ähnlich zu sein. Die Digitalisierung kommt – aber mit hohen Kosten und großem Aufwand. Und das nicht nur in der Produktion, sondern innerhalb des gesamten Unternehmens.

Viele der bisherigen Geschäftsmodelle gelten als veraltet: Den guten alten Barkauf einer automatisierten Robotik-Anlage, eines digitalen Maschinenparks oder eben auch eines fahrerlosen LKWs wird es nur sehr selten geben. Franchise rechnet sich für viele Manager nicht mehr, weil sie dann aufwändige Steuersysteme selber programmieren und betreiben müssten. Also ist ein mögliches neues Geschäftsmodell, dass die Unternehmen bei den Herstellern lediglich für die Nutzung von Maschinen oder Robotern zahlen. Programmierung, Steuerung, Wartung, Verschleiß sind dann im Preis eingerechnet. Die Kostenvorteile entstehen langfristig im Betrieb.

Quelle: Bitkom, 2018

Digitale Produktionskreisläufe

Eine der Industrie-4.0-Gesetzmäßigkeiten scheint zu sein, dass aus Maschinenbauern hochkomplexe IT-Unternehmen werden – während die IT-Unternehmen immer mehr Expertise im Maschinenbau sammeln müssen. Die beiden Industrien standen sich vor kurzem noch mit wechselseitigem Unverständnis gegenüber. Jetzt sind sie gezwungen in kürzester Zeit voneinander zu lernen.

Die Autoindustrie lebt vor, wie sich Maschinenbauer mit langer Tradition und großem Wissen rund um mechanische Produkte Schritt für Schritt in IT-Unternehmen wandeln. Damit verbunden ist die Suche nach den IT-Experten, die Programme und Anwendungen für die neuen Roboter und Maschinen schreiben. Und die das Denken der Maschinenbauer und insbesondere der Automobilindustrie verstehen: Schließlich ist der Computer der Zukunft eine Produktionsanlage, die automatisiert und ohne Pause komplexe Produkte erzeugt.

Und das mobile Gerät der Zukunft ist kein Smartphone, das sich mit Schrittgeschwindigkeit „bewegt“. In Zukunft steuern die Programme tonnenschwere Zugmaschinen-Roboter. Die rasen mit mehr als hundert Stundenkilometern und bis zu 500 PS durch Städte oder über das Land. 

Gute oder schlechte Programmierung entscheidet über Leben und Tod. Unter dieser Prämisse scheinen reale und digitale Welt zu einem digitalen Wunderland zu verschmelzen. In diesem Prozess werden unsere heutige reale Gesellschaft und tatsächliche Wirtschaft mit digitalen Mitteln Stück für Stück umgebaut. Die elektronische Abbildung der nicht linearen Prozesse und komplexen Produktionsnetze verlangt Echtzeitunterstützung, Datenanalyse, künstliche Intelligenz. Und sie verlangt die Faszination für das Digitale und Virtuelle. Und eben auch das Vertrauen, sich die Straßen mit virtuell gesteuerten Schwertransporten gefahrlos teilen zu können.

Maschinen kennen nur programmierte Fehler

Denn Objekte, die bislang passiv waren, werden zu einem digitalen Leben erweckt. Hierfür sind Produkte und Dinge mit Robotik und Sensoren ausgestattet. Sie erhalten die Verantwortung, Teile millimetergenau zu vermessen, zu produzieren und zu liefern. Es ist keine Frage – Maschinen, Produkte und Gegenstände dieser IoT-Welt werden unseren heutigen Dingen in vielen Disziplinen überlegen sein. Ob sie auch den Menschen überlegen sind, wird sich erst zeigen. Aber es scheint eine weitere Gesetzmäßigkeit zu sein, dass sie Menschen an vielen wichtigen Stellen ersetzen und die Industrie in der Produktion keine Rücksicht mehr auf Menschen nehmen muss. Dafür muss sie sich umso mehr um die Menschen kümmern, die die Macht haben, die Maschinen zu programmieren und zu
beherrschen. 

Die „smarten Produkte“ sind aus drei Baugruppen zusammengesetzt: die mechanischen und physischen Komponenten, die „intelligenten“ Bauteile sowie die vernetzten Elemente. Und alles, was eine Maschine kann, kennt oder bewegt, muss aufwändig beschrieben und programmiert werden. Im Umkehrschluss werden alle Probleme, die nicht beschrieben sind oder für die es keine Programme gibt, von der Maschine weder erkannt noch verarbeitet werden. Das sich die Verantwortlichen dieser Herausforderung bewusst sind, zeigt das Ergebnis einer Befragung von führenden Mitarbeitern in Produktionsbetrieben: Als eines der größten Risiken beschrieben sie die Befürchtung, die Kontrolle über eine automatisierte und von Robotern gesteuerte Produktion zu verlieren.

Der Alptraum ist, dass ein weitverzweigter Verbund von Produktionsanlagen hunderte oder vielleicht tausende Dinge produziert, die zwar aus Sicht der Maschinen völlig richtig erscheinen, aus Sicht der Verantwortlichen aber ganz einfach „falsch“ sind.

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